Sturz im Alter: Angst überwinden, Mobilität gewinnen – mit gezielter Prävention
Wenn das „Plumps!“ Alles verändert: Die Angst nach dem Sturz verstehen. Der Schreck fährt dir in die Glieder, wenn der Anruf kommt: „Mama ist gestürzt!“ Oder du bist selbst hingefallen und spürst diesen einen kalten Moment der Panik. Dieses „Plumps!“ kann das Leben deines geliebten Menschen – oder deins – von Grund auf verändern. Doch die wahre Herausforderung beginnt oft erst nach dem Sturz: Wie kommt man psychisch und körperlich wieder auf die Beine?
Stürze sind bei älteren Menschen kein seltenes Problem. Allein in Österreich stürzen jährlich rund 30 % der über 65-Jährigen mindestens einmal. Und während wir zuerst an Brüche und blaue Flecken denken (lediglich 5 % der Stürze sind laut Expertenstandard mit schweren körperlichen Verletzungen verbunden), ist es oft die unsichtbare Wunde – die Angst vor dem nächsten Sturz – die am tiefsten sitzt und die Lebensqualität massiv einschränkt. Diese Angst kann sich zu einer regelrechten Phobie entwickeln: das Post-Fall-Syndrom.
Erinnerst du dich an Inge, die lebensfrohe Dame, die immer einen Witz auf den Lippen hatte? Seit sie beim Blumengießen gestürzt ist, verkriecht sie sich jetzt hinter ihren Gardinen. Ihre Lieblingsblumen? Längst vertrocknet. Das Licht in der Küche? Bleibt aus. Ihre Nachbarin Karin spürt die Verzweiflung. Muss das wirklich so sein? Muss ein einziger Sturz das Leben so grundlegend verändern?
Das Post-Fall-Syndrom kann einen Teufelskreis erzeugen: Vermiedene Bewegungsversuche führen zu Muskel- und Knochenabbau. Der Mangel an körperlicher Aktivität und Sonnenlicht kann sogar zu Osteoporose führen, einer Krankheit, bei der die Knochen instabil werden und leicht brechen. Somit sind, wenn die Person doch einmal aufstehen muss, wiederholte Stürze vorprogrammiert. Daher ist es entscheidend, sich nach einem Sturz auch darauf zu konzentrieren, der Person psychisch wieder aufzuhelfen und sie zu bestärken.
Der Weg aus dem Teufelskreis: Aktiv helfen und Vertrauen stärken
Risikofaktoren erkennen und minimieren
Der Weg aus dem Teufelskreis beginnt immer beim behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin. Als Pflegekraft oder Angehörige:r solltest du zusammen mit ihm oder ihr das Risiko eines weiteren Sturzes abschätzen. Es ist wichtig, die Ursachen für Stürze im Alltag zu erkennen und zu beseitigen. Das verdeutlicht, dass Betreuung und Pflege NICHT dasselbe sind und eine sorgfältige Risikoabschätzung erfordern.
Häufig sind Stolperfallen in der eigenen Wohnung, wie glatte Böden oder hochstehende Teppichkanten, eine Gefahr. Auch schlecht sitzende Schuhe, die keinen Halt bieten, können ein erhöhtes Sturzrisiko darstellen. Niedriger Blutdruck ist ein weiterer Risikofaktor, der zu Stürzen führen kann. Möglicherweise ist zum Beispiel ein Medikament dafür verantwortlich, dass die Beine nicht gehorchen wollen oder das Gleichgewicht versagt.
Noras Home Safety Check: Die unsichtbaren Stolperfallen
- Sorge für gleichmäßige, helle Beleuchtung in allen Räumen, besonders nachts. Bewegungsmelder an Fluren und im Bad können Wunder wirken. Stolperfallen sieht man oft nicht, wenn es dämmrig ist.
- Auch zu Hause: rutschfeste, gut sitzende Hausschuhe mit fester Sohle. Barfußlaufen oder Socken ohne Anti-Rutsch-Noppen erhöhen das Risiko.
- Fixiere alle Kabel und vermeide herumliegende Gegenstände, die nicht direkt zum Gehen benötigt werden – auch im Außenbereich wie auf Terrassen oder Balkonen.
- Badezimmer-Sicherheit: Denke an rutschfeste Matten in Dusche/Wanne und Haltegriffe. Eine erhöhte Toilette oder eine WC-Sitzerhöhung kann das Aufstehen erleichtern.
Medikamente & Sturzrisiko: Welche Wirkstoffe achtsam machen sollten
Was tun nach einem Sturz im Alter?
Sofortmaßnahmen nach einem Sturz
Wenn du einer Person dabei hilfst, sich nach einem Sturz wieder vom Boden aufzurichten, ist das oberste Gebot: Ruhe bewahren! Und das gilt für beide Seiten. Hilf dem/der Betroffenen nicht sofort auf; stattdessen gib ihm/ihr die Gelegenheit, sich wieder zu sammeln und den Schrecken zu verdauen. Du kannst hierfür ein kleines Kissen unter den Kopf der Person legen und sie zudecken, denn vor allem, wenn sie schon längere Zeit auf Hilfe gewartet hat, ist die Gefahr der Unterkühlung am Boden relativ hoch.
Umgang mit Stresssituationen: Gerade bei Senioren kann in solchen Schock- und Stresssituationen mal etwas danebengehen. Falls das geschehen ist, beseitige die nasse Kleidung, um zu verhindern, dass sich die Person erkältet.
Beruhige dich auch selbst: Am Boden kann dem/der Gestürzten nichts mehr passieren, und du hast Zeit. Sobald sich die Situation etwas beruhigt hat, taste die Person vorsichtig ab. Gib dabei zu verstehen, dass sie bei Schmerzen sofort Bescheid sagen soll, damit du eventuelle Verletzungen abschätzen kannst. Gerade Brüche sieht man von außen oft kaum; liegt ein solcher vor, darf die Person jedoch nicht bewegt oder zum Aufstehen animiert werden. Hier ist es deshalb wichtig, auf die Einschätzung der betroffenen Person zu hören und diese ernst zu nehmen.
Aufstehen mit Hilfsmitteln oder externer Hilfe
Keine schweren Verletzungen festgestellt? Super! Doch wie geht es jetzt weiter? Hole am besten zwei stabile Stühle, an denen sich die Person abstützen und das selbstständige Aufstehen versuchen kann. Falls du dafür den Raum verlassen musst, erkläre ihr, warum du sie alleine lässt und dass es nur für einen kurzen Moment ist.
Wenn zusätzliche Hilfe notwendig ist: Oft sitzt jedoch der Schrecken noch tief, oder die Person kann nicht genug Kräfte sammeln, um das eigene Körpergewicht hochzuziehen. In diesem Fall gilt es abzuschätzen, ob du alleine in der Lage bist, die Person wieder aufzurichten. Wenn du Zweifel hast, solltest du es auf gar keinen Fall einfach versuchen, denn wenn du unter dem Gewicht fällst und dich auch verletzt, kannst du keine Hilfe mehr leisten.
Rufe am besten einen Nachbarn zu Hilfe, der mit dir gemeinsam die Situation bewältigen kann. Falls niemand erreichbar ist und sich auch bei Freunden oder Familienmitgliedern nur die Mobilbox meldet, ist es auch durchaus legitim, den Notruf zu wählen. Denn länger als 45 Minuten sollte keine gestürzte Person auf dem Boden liegen.
Wann benötige ich einen Notarzt? Und Erste Hilfe am Boden
Wann den Notruf wählen (144 / europaweit 112):
- Wenn Brüche vorliegen, ein Gelenk unnatürlich verdreht ist oder die Person nicht ansprechbar ist.
- Wenn Anzeichen von Kreislaufversagen (z.B. fahle, klamme Haut, schnelle Atmung, schwacher Puls) bestehen.
- Wenn du eine Kopf- oder Wirbelsäulenverletzung vermutest (z.B. Nackenschmerzen, Taubheitsgefühle).
In solchen gefährlichen und riskanten Situationen sollten Bewegungen auf jeden Fall vermieden werden! Bis Rettung und Notarzt eintreffen, solltest du alles tun, damit sich der/die Gestürzte wohlfühlt und sicher ist.
Erste-Hilfe-Maßnahmen am Boden:
- Die Kontrolle der Atmung ist am wichtigsten. Denn selten, aber doch, kann auch Kreislaufversagen der Grund für den Zusammenbruch sein.
- Ist die Person nicht ansprechbar, atmet aber, solltest du sie in die stabile Seitenlage bringen.
- Bei Atemstillstand führt an lebensrettenden Maßnahmen, also Reanimation, nichts vorbei.
- Offene Brüche können provisorisch mit einer sauberen Wundauflage abgedeckt und druckfrei verbunden werden.
- Sind Beine oder Hüfte von einer schweren Verletzung betroffen, sollte der/die Gestürzte auf keinen Fall bewegt oder gar aufstehen.
- Bei einem gebrochenen Arm hilft die Entlastung durch ein Dreieckstuch.
In jedem Fall sollte nach der Grundversorgung und Absicherung sofort die Rettung (144) verständigt werden. Behalte den/die Verletzte:n im Auge und verlasse den Raum nach Möglichkeit nicht, bis die Einsatzkräfte eintreffen.
Expertenstandard bei Stürzen: Klassifikation & Maßnahmen
Im Expertenstandard werden Stürze je nach Schwere in vier Klassen unterteilt. Je nachdem, welcher Klasse der geschehene Sturz angehört, gestalten sich auch die notwendigen Maßnahmen:
Prävention & Selbsthilfe: Sicher fühlen, selbstständig bleiben
Das Wiederaufstehen üben: Sicherheit gewinnen
Ist in der Vergangenheit ein Sturz passiert, sollte geübt werden, wie man am besten vom Boden aufstehen kann, wenn niemand in der Nähe ist und helfen kann. Oft ist es möglich, am Boden zum nächsten Stuhl zu kriechen und sich hochzuziehen.
Der „Roll- und Robbe“-Trick: Alleine sicher aufstehen
Findet man Wege, wie sich die Person selbst helfen kann, bietet das zusätzliche Sicherheit, und die große Angst wird zur kleinen Unsicherheit. Es ist ratsam, das Aufstehen nach einem Sturz regelmäßig zu üben.
Aufmerksamkeit erregen: Wenn Aufstehen nicht gelingt
Auch solltest du der Person erklären, wie sie auf sich aufmerksam machen kann, wenn – beispielsweise durch einen Bruch – das Aufstehen nicht gelingt:
- Lautes Rufen: Anstatt „Hilfe!“ schreie: „Hilfe, ich bin gestürzt! Ich kann nicht aufstehen!“, damit der Ruf eindeutig ist. Denn einfache Hilferufe werden leider vom menschlichen Gehirn oft nicht so gewichtet, wie es eigentlich sein sollte.
- Klopfzeichen: In einem eindeutigen Rhythmus an Wände klopfen, um Nachbarn zu alarmieren.
- Der Hausnotruf: Er ist ein unverzichtbares Hilfsmittel. Stelle sicher, dass der Knopf immer in Reichweite ist (z.B. am Armgelenk). Die gestürzte Person sollte hier keine Hemmungen haben, den Knopf zu drücken, denn das ist ein Ernstfall.
- Telefon in Reichweite: Manchmal ist es möglich, zum Telefon zu robben und Hilfe zu verständigen. Daher am besten schon zuvor das Gerät so positionieren, dass es auch vom Boden aus erreichbar ist.
- Wärme: Wenn alles nichts hilft, nach Möglichkeit eine Decke, eine Jacke oder ein Handtuch über sich ziehen, um den Körper warm zu halten.
Gemeinsam für mehr Sicherheit und Lebensqualität! Ein Sturz löst bei den Betroffenen fast immer große Unsicherheit und Angst aus, die zu einem Teufelskreis führen kann. Auch Angehörige kämpfen oft mit Hilflosigkeit.
Doch du hast die Macht, diesen Kreislauf zu durchbrechen! Durch Übungen, professionelle Hilfe und ein sicheres Umfeld ist es möglich, wieder Selbstvertrauen zu gewinnen und sich wieder sicher auf den eigenen Beinen fühlen zu können. Das Wiederaufstehen nach einem Sturz zu üben und sich selbst helfen zu können, gibt enorme Sicherheit und nimmt die Angst vor einem weiteren Sturz. Im Ernstfall zählen Ruhe, die richtige Erste Hilfe und das Wissen, wann professionelle Unterstützung (Notruf) unumgänglich ist.
Lass uns gemeinsam dazu beitragen, dass ein Sturz kein Ende der Selbstständigkeit bedeutet, sondern der Anfang eines gestärkten Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Deine Schritte zählen!
Einige Begriffe, die im Artikel verwendet werden, kurz und einfach erklärt:
- Expertenstandard in der Pflege: Richtlinien und Empfehlungen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und die Qualität der Pflege in spezifischen Bereichen (wie z.B. Sturzprävention) sichern sollen.
- Fixierung: Eine Maßnahme, bei der die Bewegungsfreiheit einer Person eingeschränkt wird (z.B. durch Anschnallen am Bett oder Bettgitter). Dies ist eine freiheitsentziehende Maßnahme, die nur unter strengen rechtlichen Voraussetzungen und zum Schutz der Person angewendet werden darf.
- Geriatrie: Ein Fachgebiet der Medizin, das sich speziell mit den Krankheiten und Bedürfnissen älterer Menschen befasst.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Eine Form der Psychotherapie, die darauf abzielt, negative Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern, um psychische Probleme wie Angst oder Depression zu bewältigen.
- Multimodale Intervention: Ein Therapieansatz, der verschiedene Behandlungsformen kombiniert (z.B. körperliches Training, Medikamentenprüfung, psychologische Unterstützung und Wohnraumanpassung), um ein Problem ganzheitlich anzugehen.
- Osteoporose: Eine Knochenerkrankung, bei der die Knochenmasse abnimmt und die Knochen brüchiger werden, wodurch das Risiko für Frakturen (Knochenbrüche) steigt.
- Post-Fall-Syndrom: Eine psychische Reaktion nach einem Sturz, die sich durch starke Angst vor einem erneuten Sturz, Unsicherheit und Vermeidungsverhalten äußert. Dies kann zu Bewegungseinschränkungen und sozialem Rückzug führen.
- Reanimation: Wiederbelebungsmaßnahmen, die bei Herz-Kreislauf-Stillstand durchgeführt werden, um Atmung und Herzschlag wiederherzustellen.
- Stabile Seitenlage: Eine Erste-Hilfe-Maßnahme, bei der eine bewusstlose, aber atmende Person auf die Seite gelegt wird, um das Ersticken an der eigenen Zunge oder Erbrochenem zu verhindern.
- TUG-Test (Timed Up and Go Test): Ein einfacher, standardisierter Test zur Beurteilung der Mobilität und des Sturzrisikos. Die Zeit wird gemessen, die eine Person benötigt, um von einem Stuhl aufzustehen, 3 Meter zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und sich wieder zu setzen.
- Wohnraumanpassung: Maßnahmen zur Umgestaltung des häuslichen Umfelds, um es sicherer und barrierefreier zu machen und das Sturzrisiko zu minimieren (z.B. Entfernen von Teppichen, Anbringen von Haltegriffen, Verbesserung der Beleuchtung).